Schub und Spaltung

Corona hat den digitalen Wandel beschleunigt. Aber nicht überall: Immer mehr Unternehmen geraten außer Puste.
Illustration: Iza Bułeczka
Illustration: Iza Bułeczka
Axel Novak Redaktion

Auf einmal geht vieles einfacher: Statt in langen Staus mit nervigen Verkehrsteilnehmern sitzt ein Gutteil der Angestellten in Deutschland behaglich im Homeoffice, drückt morgens um acht auf den On-Schalter des eigenen Computers und startet in den Arbeitstag. Willkommen in der neuen Arbeitswelt, in der die Angestellten nicht nur besser und mehr arbeiten, sondern auch noch zufriedener sind, die Digitalisierung mittlerweile angekommen ist in den Unternehmen, quer durch alle Branchen. Die Corona-Pandemie und der Lockdown haben diesen Wandel beschleunigt, der ansonsten vermutlich an vielen alltäglichen organisatorischen Hürden und der Beharrlichkeit der Präsenzkultur gescheitert wäre.


 Doch hat sich die Digitalisierung auch in den Geschäftsprozessen und -modellen durchgesetzt? Oder beschränkt sich die Modernisierung auf den Kauf neuer Laptops und Bildschirme, die nun die vielen Homeoffices schmücken? „Die Corona-Pandemie ist eindeutig ein Digitalisierungstreiber für die deutsche Wirtschaft“, sagt Achim Berg, Präsident des Digitalverbands Bitkom. „Die gute Nachricht ist: Die Unternehmen wollen etwas tun und die Digitalisierung vorantreiben. Die schlechte Nachricht: Längst nicht alle sind dazu in der Lage.“


Laut Bitkom sind die Unternehmen davon überzeugt, dass durch die Corona-Pandemie die Digitalisierung für das eigene Unternehmen an Bedeutung gewonnen hat. Allerdings hat der Stillstand und die Umstellung auf Distanz-Arbeit vielen Unternehmern und Führungskräften die Augen geöffnet: Nur noch rund jeder Vierte betrachtet sich und sein Unternehmen als Vorreiter der Digitalisierung – im April war es noch mehr als jeder Dritte. Umgekehrt räumen mehr als zwei Drittel der Unternehmen ein, dass sie mittlerweile zu den Nachzüglern zu gehören.


Es steht also nicht gut um die digitale Transformation in Deutschland. Und das, obwohl doch alle wissen, dass digitalisierte Unternehmen nicht nur die aktuelle Krise besser überstehen als die, die noch in den Prozessen und Geschäftsmodellen der alten, analogen Welt wirtschaften. Sondern vor allem die vielversprechenden Chancen neuer, digitaler Technologien und Anwendungen bringen Unternehmen zu mehr Digitalisierung.

Doch die Weiterentwicklung der Geschäftsmodelle öffnet nicht nur Perspektiven, sondern sie ist schlicht und einfach notwendig, wenn Unternehmen überhaupt eine Zukunft haben wollen. Und zwar aus einem einfachen Grund: der Kunde erwartet es. Der will heute jederzeit, überall und von jedem Gerät aus Lösungen für sein individuelles Bedürfnis finden – und findet diese auch immer öfter. Das verlangt von den Unternehmen eine grundlegende Umkehr in ihrer strategischen Ausrichtung.


In der Finanz- und Versicherungswirtschaft beispielsweise: Die zunehmende digitale Vernetzung verändert die Ansprüche der Menschen an Banken und Versicherungen und ihre Produkte grundlegend. „Unsere Szenarien zeigen, dass Versicherungsprodukte zukünftig nur noch auf Basis der Konnektivität funktionieren. Durch sie werden beispielsweise exaktere und individuellere Abschätzungen von Risiken möglich. Das bietet ein riesiges Potenzial für innovative Produkte, vor allem in den Bereichen Schadensvorsorge und Risikoschutz,“ sagt Giso Hutschenreiter, Partner im Segment Insurance beim Beratungsunternehmen BearingPoint.


Weil der Kunde für seine ubiquitäre Bedürfnisstillung immer mehr Geräte nutzt, die über das Internet verbunden sind, wird die immer stärker zunehmende Konnektivität die Kommunikation zwischen Menschen, Maschinen und Künstlicher Intelligenz revolutionieren. „Der erfolgreiche Versicherer muss daher nicht nur den Trend zur Digitalisierung erfolgreich begleiten, sondern zugleich radikal umdenken und sich auf die neue Welt einstellen“, heißt es in einer Studie von BearingPoint.


Oder in der Energiewirtschaft. Auch hier ist der Kunde längst digital unterwegs, erwartet eine andere Ansprache und hat andere Anforderungen an die Akteure der Branche. Die Energieversorger müssen also handeln: Internetanwendungen wie Data Analytics oder Cloud und Mobile Computing helfen ihnen jetzt schon, auf spezifische Anforderungen zu antworten. Sie sorgen auch dafür, Erzeugungsanlagen besser zu steuern und zu koordinieren, die immer dezentraler von Kunden angelegt werden, die sich selber vom Verbraucher zum Lieferanten wandeln.


Doch die Konkurrenz schläft nicht – im Gegenteil: Neue und teils branchenfremde Unternehmen drängen auf den Strom-, Gas- und Wärmemarkt. Mit ihren Plattform-Modellen etablieren sie sich erfolgreich zwischen Endkunden und traditionellen Energieversorgern. Nur wenn die Versorger neue Produkte und Angebote entwickeln, können sie ihr Geschäftsmodell bewahren, das ja weiterhin auf teuren und wenig mobilen Assets aufbaut.

Eine Möglichkeit bietet beispielsweise mehr Zusammenarbeit zwischen Energieversorgern und Wohnungswirtschaft. Das legt zumindest die Stadtwerkestudie 2020 des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) und der Wirtschaftsprüfer von EY nahe. Beide Sektoren stehen unter hohem Kosten- und Wettbewerbsdruck. Eine Kooperation bei energienahen Geschäftsfeldern wie Energielieferung, -dienstleistung und Smart Metering könnte daher beiden nutzen. Hier würde die Digitalisierung konkret zu mehr Effizienz und Wachstum führen. „Als Plattformbetreiber können sich Energieversorger zum Dienstleister und Lösungspartner für Unternehmen, Städte, Kommunen und Verbraucher entwickeln“, sagt Kerstin Andreae, Vorsitzende der BDEW-Hauptgeschäftsführung.


Dieser Drang zur Digitalisierung setzt sich auch in den komplexeren Lieferketten und Produktionsverfahren der Wirtschaft durch. Aber was hindert Unternehmen, diesen Schwung, den Corona nun beschleunigt, umzusetzen? Ist es die mangelnde politische Unterstützung? Die Bundesregierung hat es in den vergangenen Jahren nicht geschafft, eine digitale Infrastruktur zu schaffen, die neue Geschäftsmodelle und digitales Agieren zur Selbstverständlichkeit werden lässt. Deshalb sprechen sich viele Unternehmen dafür aus, dass Politik massiv in die Digitalisierung des Landes investiert und die digitale Infrastruktur vor allem im Bund zur Top-Priorität wird.


Oder sind nicht viel mehr die Firmen gefragt? Da gibt es deutliche Warnsignale dafür, dass die Führungskräfte und Manager in Deutschland nicht immer auf der Höhe der Zeit sind. Digitalisierung ist Chefsache, die Unternehmensführung sollte sich mit den Chancen der neuen Entwicklungen beschäftigen und alle Ebenen des Unternehmens in diesen Prozess einbeziehen. Doch viele Unternehmen haben keine wirkliche Digitalstrategie: Sie wissen nicht, wie sie unternehmerische Ziele digital erreichen, wie Digitalisierung zu Wettbewerbsvorteilen führt und welche Schritte dafür notwendig sind.


Die KfW Bankengruppe stellt in der Unternehmensbefragung 2020 fest, dass der positive Trend der Vorjahre zu mehr Digitalisierung sich nicht fortgesetzt hat. Im Gegenteil: Gegenüber dem Vorjahr ist der Anteil der Unternehmen, die Digitalisierungsvorhaben planen, um rund fünf Prozentpunkte gesunken. Als Grund vermuten die Kfw-Analysten, „dass der Trend zur Digitalisierung wieder anzieht, auch wenn die derzeitigen Umsatzeinbrüche die Finanzierung von Digitalisierungsvorhaben zusätzlich erschweren.“


Der Bitkom weiß da mehr: So hätten zwar fast die Hälfte der Unternehmen seit Corona mehr Geld in die Digitalisierung gesteckt. Umgekehrt beklagt aber fast ein Drittel sinkende Investitionen – aus einer Vielzahl von Gründen. Vor allem fehlt Geld durch die Folgen der Corona-Pandemie. Wer sich durch den Lockdown in seiner Existenz gefährdet sieht, der geht nicht offensiv in die Investition. Zumal den Unternehmen nicht nur das Geld fehlt, sondern auch fachliche Expertise, kompetentes Personal und ganz einfach die Zeit.


„Es besteht die Gefahr, dass der Digitalisierungsschub durch Corona zu einer noch tieferen Spaltung in der deutschen Wirtschaft führt“, sagt Achim Berg vom Bitkom-Verband pessimistisch. In Unternehmen, die weitgehend im Analogen verharren. Und in Unternehmen, die bei der Digitalisierung mit Tempo vorangehen.

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